Verzicht

Hier sind meine einleitenden Gedanken zum Salon vom 1. Mai 2025:

Ist freiwilliger Verzicht notwendig für ein gelingendes Leben?

Heute Abend diskutieren wir nicht bloss ein Thema, sondern eine These. Die stammt aus dem Buch von Otfried Höffe. Ihr braucht das Buch nicht zu kennen, um heute mitzudiskutieren—denn ich habe es für euch alle gelesen! Also beginne ich mit einer Einführung in den «Essay», wie Höffe es nennt.

Er startet mit der Beobachtung, dass der Verzicht keinen guten Ruf hat (S. 11). Weil dies erstaunlich scheint, will der Autor ein Plädoyer für den Verzicht schreiben: er möchte ihn rehabilitieren. Dann kommt ein Ausflug ins Recht. Das mag uns sonderlich anmuten, ist aber angesichts der Bedeutungsgeschichte des Wortes «Verzicht» klar: es stammt von «verzeihen» ab, und damit davon, eine Schuld zu vergeben. Wir «verzichten» also darauf, einen Anspruch einzufordern (S. 24). Im Recht hat der Verzicht etwas Gutes: wenn wir auf Rache verzichten (S. 40). Dies ist seit Aristoteles nicht dasselbe wie Strafe. Rache ist aus auf willkürliche Genugtuung, Strafe ist aus auf leidenschaftslose Gerechtigkeit.

Verzichten lebt auch ausserhalb der Justiz weiter. Zum Beispiel, nicht tun, wenn ich etwas das möglich wäre—ich könnte mir neue Kleider gönnen, aber ich lasse es sein—; oder etwas nicht zu bekommen, das ich mir zwar wünsche, aber doch nicht wirklich will.

Dann folgen zwei «Verzichtsmuster», wie sie Höffe nennt: das «erste ermöglicht es dem Menschen, nicht nur zu leben, sondern in einem anspruchsvollen Sinn Mensch zu sein». Und das zweite «hilft, das Menschsein zu steigern» (S. 51). Nun, was heißt dies?

Das erste Muster des Menschseins wird mit den Tugenden illustriert: Tapferkeit, Gerechtigkeit, Klugheit und Besonnenheit. Wer tapfer ist, verzichtet auf Übermut und Feigheit, also darauf, gedankenlos vorzupreschen oder sich bei Gefahr zu verstecken. Wer gerecht ist, verzichtet darauf andere zu betrügen, oder sich selbst zu bevorteilen (S. 61). Wer klug ist, verzichtet auf unüberlegtes Handeln (S. 62). Wer besonnen ist, verzichtet auf übermässige Lust und Begierde, und auch auf Habsucht, Ehrsucht und Herrschsucht (S. 64). Verzicht ist also Mässigung. Wie schon die Tempelinschrift in Delphi sagte: «Nichts im Übermass».

Verzicht ist ebenso «Selbstbeschränkung». Wir setzen uns Schranken, mit welchen wir uns im Zaum halten. Oder vielleicht setzen wir uns auch Leitplanken, die uns bei unserer rasanten Fahrt durchs Leben führen. Verzicht ist also auch Selbstkontrolle: wir stehen zurück oder halten uns zurück; wenn es nötig ist, oder erwünscht; wir halten Abstand, oder wir mischen uns nicht ein (S. 87). Dies ist insbesondere zu sehen bei der Toleranz, wo wir nicht nur murrend und widerwillig eine Ansicht dulden, die uns nicht passt, sondern wo wir willentlich darauf verzichten, einzugreifen und etwas zu unternehmen. Wir stellen unsere Anschauungen und Vorstellungen vom richtigen Leben hinten an oder relativieren sie (S. 84). Wir verzichten auch darauf, ungefragte Ratschläge zu erteilen. Die anderen lassen wir leben.

Das zweite Muster: das gesteigerte Menschsein (S. 99). Nun, wie könnten wir durch Verzicht mehr Mensch und komplettere, oder sogar vollendete, Menschen, sein? Epikur fällt uns hier natürlich am ersten ein. Wenn wir nicht immer mehr wollen, noch luxuriösere Dinge besitzen wollen, uns vor dem Tod fürchten oder vor Gottes Zorn, dann können wir nicht gut leben. Wir müssen uns freimachen von Genuss und Angst: wir müssen mit anderen Worten auf Bedürfnisse der Sinneslust und Gott verzichten. Paradoxerweise ist diese Abwesenheit von Schmerz und Furcht die grösste Lust. Die Folge von Verzicht ist die Seelenruhe, und damit das Glück. Epikur, welcher ein frugales Leben ohne Luxus empfiehlt, wird folgendes nachgesagt: «Wenn du möchtest, dass Pythokles reich sei, dann gib ihm nicht mehr Geld, sondern vermindere seine Begierde.»

Die Stoiker haben auch einen Hang zum Verzicht. Wir sollen unsere Leidenschaften zügeln: uns nicht aufregen, wenn uns das Schicksal nicht wohlgesinnt ist. Verzichten darauf, alles im Griff zu haben, bestimmen zu können. Loslassen, und darauf vertrauen, dass es schon gut kommt. Dies muss geübt werden. Das ist die «asketische» Lebensform: askesis heisst «üben». Dies kann auf vielerlei Arten geschehen. Für viele ist Fasten ein wesentlicher Bestandteil: der Verzicht auf Nahrung ist in vielen Religionen so etwas wie ein Standard (S. 108). Sie dient der Läuterung des Geistes.

Höffe diskutiert kritisch drei «Prunkworte» (von Nietzsche): Armut, Demut, und Keuschheit (S. 120; Genealogie III.8). Armut ist der freiwillige und übertriebene Verzicht auf Wohlstand. Demut ist eine freiwillige und übertriebene Bescheidenheit. Und Keuschheit ist eine freiwillige und übertriebene Enthaltsamkeit. Dieses sind Verzichte, auf die wir verzichten sollten. Sie machen uns nicht besser.

Zum Abschluss finden wir nun auch kollektive Verzichte, die über den individuellen Gewinn hinausgehen. Die Klimakrise, die Ausbeutung der Natur, die Finanzkrise, und die Bevölkerungsexplosion. Alle diese Krisen—was nebenbei gesagt aus dem Griechischen stammt und dort «Entscheidung» bedeutet—können mit Verzicht bewältigt werden. Wir Menschen neigen zur Übertreibung. Wir wollen zu viel, zu gross, zu schnell.

Also: die These lautet: «Will der einzelne Mensch und will die moderne Zivilisation menschenwürdig überleben, benötigen sie ein hohes Mass an einer sowohl persönlichen als auch wirtschaftlichen, ferner gesellschaftlichen und politischen Selbstbeschränkung» (S. 186). Mit anderen Worten, wir sollten uns bremsen.

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