Autonomie
Dies waren meine einführenden Gedanken vom Salon des 16. Oktobers:
In Debatten wird die Autonomie oft ins Feld geführt. Aber was könnte es heissen, sich selbst ein Gesetz zu sein?
Heute wollen wir uns der Autonomie zuwenden. Ich beginne wie jeden Abend mit einer kurzen Einleitung, so gewissermassen zum Aufwärmen. Ich präsentiere so etwas wie Gedankenfetzen, mit der Idee, euch zum Denken anzuregen. Nicht mehr, und nicht weniger. Und dann seid ihr dran: zusammen werden wir diskutieren, debattieren, und philosophieren. Ihr dürft sagen was ihr denkt, vermutet, oder wisst. Oder auch nur zu wissen glaubt. Wir sind hier, um den anderen zuzuhören, und um von anderen gehört zu werden. Es geht nicht um ein Resultat zum Vorzeigen. Aber vielleicht—wer weiss?—hat ja jemand unter uns eine Erkenntnis oder eine Einsicht. Das wäre toll.
Wie ihr sicher schon ahnt, ist ‘Autonomie’ ein Griechisches Wort, eine Zusammensetzung aus ‘autos’ und ‘nomos’. Das erste bedeutet ‘selbst’ und das zweite ‘Gesetz’. Autonom ist also jemand, der sich selbst Gesetze gibt, oder nach eigenen Gesetzen lebt. Nun könnte jemand denken: aber das geht ja gar nicht! Wir sind doch umrahmt von Vorschriften, Bestimmungen, Regeln, und eben Gesetzen, die uns der Staat vorgibt—die uns vorschreiben, was wir zu tun haben. Diese Vorgaben sind uns gesetzt, und wir haben uns nach ihnen zu richten. Bei Übertretungen droht eine Strafe. Weil sie nämlich die Basis für ein friedliches Zusammmenleben sind, machen manche Gesetze durchaus Sinn. Und dies bedeutet: kein Individuum kann eigene Gesetze machen oder haben, da diese ja unser Leben in der Gemeinschaft regeln.
Also, was könnte mit Autonomie sonst noch gemeint sein? Wenn wir auf der politischen Ebene bleiben: die Schweiz möchte ja auch weitgehend autonom sein, und nicht die Gesetze der EU übernehmen. Das haben wir an der Urne klar gemacht. Die Schweiz möchte sich selbst regieren.
Regierung? Ist es hier nicht verführerisch, in Bezug auf uns Einzelne, von der Autonomie als die Regierung von uns Selbst zu denken? Im Sinne von Leiten, Regulieren, oder Herrschen—also Selbstleitung, Selbstregulation, und Selbstbeherrschung. Und dies bedeutet doch: Autonomie ist Selbstbestimmung. Wer autonom ist, bestimmt sich selbst: wir denken mit unserem eigenen Kopf, sind unabhängig. Oder zumindest, wir wollen es sein.
Autonomie ist deshalb ein Gegensatz zum Nicht-Gebrauch unser eigenen Vernunft. Oder vielleicht auch zu Gehorsam. Nicht einfach folgen, und damit in den Augen der Folgsamen widerspenstig sein, das war auch das Motto der «Autonomen» Jugendbewegung in den 1980-er Jahren. Dies hat Wurzeln in Kant, welcher in seinem Pamphlet zur Aufklärung diese folgendermassen skizziert, nämlich als «Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit». Der Eingang in die Unmündigkeit war Faulheit und ein Mangel an Mut zum Selbderdenken. Der Ausgang ist deshalb also diesen Mut zu entwickeln, und uns dadurch das Denken zu eigen machen. Kreativ denken. Kritisch reflektieren, statt bloss folgsam nach-denken, oder mit-denken. Dieser Ausgang geht natürlich in Richtung der Autonomie, des Selbst-Denkens, der Selbstbestimmung. Vor allem, wie es Descartes einmal ausdrückte, ist niemand so verrückt, dass er mit den Augen von anderen sehen will, und deshalb ist es ebenso verrückt, mit dem Kopf von anderen denken zu wollen.
Diese Unabhängigkeit, oder doch wenigstens etwas Distanz von der Meinung anderer, müssen wir uns erarbeiten. Mir scheint, dies ist es worauf es bei der Autonomie drauf an kommt: dieses Denken ist frei. Also hat Autonomie vielleicht auch etwas mit der Freiheit des Willens zu tun. Wir bestimmen selbst, was wir wollen. Wir setzen uns unsere eigenen Lebensziele.
Um wiederum Kant ins Feld zu führen—er schreibt woanders: «Was kann die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein?» Nun, das ist eine bedeutungsschwangere rhetorische Frage. Er beantwortet sie gleich selbst: «Der Satz aber: ‘der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz’, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann.» Potz tausend, was meint Kant hier bloss?
Eine Maxime ist so etwas wie ein Handlungsgrundsatz, also z.B. ‘Wenn ich etwas nicht verstehe, dann frage ich’. Und ein allgemeines Gesetz ist eines das universell ist, also für alle Handlungen und Akteure gilt. Also, etwas in dieser Art, ‘Wenn man etwas nicht versteht, soll man fragen’. Nun, ein allgemeines Gesetz hat es in sich: weil da nämlich die Kohärenz ins Spiel kommt. Etwa so: ich kann nur das kohärent wollen, also nur das wollen was mich im Reinen mit mir selbst lässt, was alle anderen auch wollen können. Wenn dies nicht der Fall ist, oder es nicht der Fall sein kann, dass alle dies wollen können, dann ist diese Maxime nicht verallgemeinerbar. Für die Experten unter euch: dies ist was dieser Imperativ kategorisch macht, also ungebunden an den Einzelfall.
Hier ein Beispiel aus der Ethik. Stell dir vor ich hätte die Maxime, ‘Wenn mir etwas fehlt, dann nehme ich mir’. Ich gebe mir hiermit die Erlaubnis zum Stehlen. Aber kann ich auch wollen, dass diese Maxime ein allgemeines Gesetz wird? Nein, weil damit kein Eigentum mehr existiert, weil alles allen gehört.
Wenn wir also etwas Ähnliches für die Autonomie verlangen, dann sieht es böse aus. Ist sie noch möglich?
Ich denke schon, weil Kant’s allgemeines Gesetz ja gar nicht ins Spiel kommt: ich bestimme mich selbst, und niemand anderen. Es ist bloss eine Frage der Möglichkeit, ob das, was ich im Sinn habe, auch für andere möglich sei, oder ob es etwas ist, das die Möglichkeiten der anderen einschränkt.